Mit den zusätzlichen Maßnahmen ab 2. November 2020 („November-Lockdown“, „Teil-Lockdown“) zur Bekämpfung der SARS-Cov2-Pandemie soll eine Überforderung des Gesundheitssystems mit intensivmedizinisch zu betreuenden schweren Covid-19-Verläufen verhindert werden. Denn die Infektionszahlen sind in den letzten Tagen im gesamten Bundesgebiet rasant gestiegen.
Auch wenn der Teil-Lockdown schnell umgesetzt wird, lässt sich die starke Ausbreitung des Coronavirus jedoch nur mit Verzögerung ausbremsen. Wie die Infektionsentwicklung aussehen könnte, haben Forscher der Universität des Saarlandes in verschiedenen Szenarien durchgerechnet.
Sie können damit zeigen, dass nur mit einer drastisch gesenkten Reproduktionszahl eine Überlastung der Krankenhäuser und Intensivstationen noch zu verhindern ist. Der dafür genutzte Covid-Simulator kann auch für einzelne Stadt- und Landkreise im ganzen Bundesgebiet die Infektionszahlen vorhersagen.
Mehr Intensivbetten als zu Spitzenzeiten der ersten Welle erforderlich
„Wir wissen aus der Entwicklung im Frühjahr 2020, dass sich erhöhte Infektionszahlen erst mit mehrwöchiger Verzögerung auf die Belegung der Intensivstationen auswirken. Deshalb sind auch derzeit trotz anvisiertem Teil-Lockdown die Spitzenbelegungen erst zwischen Mitte November und Anfang Dezember zu erwarten.
Mit unseren Simulationen mussten wir leider feststellen, dass unabhängig davon, wie stark man ab jetzt die weitere Ausbreitung des Coronavirus stoppen kann, im Dezember mindestens doppelt so viele Intensivbetten belegt sein werden wie zu Spitzenzeiten der ersten Welle“, erwartet Thorsten Lehr, Professor für Klinische Pharmazie der Universität des Saarlandes. Gemeinsam mit seinem Team und Forscherkollegen hat er das mathematische Modell für den Online-Simulator entwickelt, das auf der Basis umfangreicher Daten präzise Ergebnisse für das gesamte Bundesgebiet liefert.
Reproduktionszahl muss drastisch sinken
Nach Berechnungen der Wissenschaftler liegt derzeit (Pressemitteilung vom 30.10.2020) die bundesweite mittlere Reproduktionszahl bei 1,43. Sie sagt aus, wie viele Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt, aktuell übertragen danach zehn Infizierte das Coronavirus auf etwas mehr als vierzehn Personen.
„Wenn es uns gelingen würde, den R-Wert wieder auf das gleiche Niveau wie bei dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020, also auf etwa 0,6 zu drücken, würde ein Monat nicht ausreichen, um das Infektionsgeschehen in den Griff zu bekommen. Es gäbe auch dann noch bei über der Hälfte der Stadt- und Landkreise mehr als 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner im Schnitt der letzten sieben Tage gerechnet“, warnt Thorsten Lehr.
Selbst bei dem sehr niedrigen und derzeit äußerst unrealistischen R-Wert von 0,3 lägen nach einem Monat noch knapp 20 % der Stadt- und Landkreise über dem 7-Tages-Inzidenzwert von 50.
Zahl der Neuinfizierten unter 2000 pro Tag drücken
Im Rückblick konnten die Forscher genau sehen, wie sich die einschneidenden politischen Interventionen im Frühjahr, also Schulschließungen und Ausgehbeschränkungen, auf die Infektionszahlen auswirkten.
Im Unterschied zu damals hat sich das Coronavirus jetzt jedoch flächendeckend in der Bevölkerung ausgebreitet. Zudem fallen die aktuell beschlossenen Maßnahmen weniger drastisch als im März 2020 aus, sodass die Wissenschaftler nicht vorhersagen können, wie gut diese das Infektionsgeschehen eindämmen können.
„Wir haben daher verschiedene Reproduktionsraten durchgerechnet, um zu zeigen, wie sich die Spannweite von nur geringem Rückgang, also einem Wert von 1,1, auf eine extreme Drosselung auf 0,3, auf die Krankenhausbelegung auswirken würde“, erläutert Thorsten Lehr.
„Diese Simulationen machen sichtbar, dass die Wirkung der aktuellen Maßnahmen wahrscheinlich stärker als bei dem ersten Lockdown im März sein müsste. Nur so kann es gelingen, dass das Infektionsgeschehen wieder kontrollierbar wird“, unterstreicht Lehr.
Nach den niedrigen Covid-19-Zahlen im Sommer hatte sich die Infektionsdynamik Mitte September deutlich geändert, so dass es Anfang Oktober zu dem stark exponentiellen Anstieg der täglichen Fälle kam. Lehr: „Bei diesem Wendepunkt (in den Abbildungen markiert), spielte vermutlich eine entscheidende Rolle, dass die Gesundheitsämter nicht mehr bei allen Infizierten nachverfolgen konnten, wo diese sich angesteckt hatten und mit wem sie seitdem Kontakt hatten.“
Um diese so wesentliche Nachverfolgung wieder zu gewährleisten, sei es sinnvoll, die Zahlen auf täglich unter 2000 Neuinfizierte zu drücken. „Wenn es uns nicht gelingt, die Reproduktionszahl in den kommenden Wochen deutlich zu senken, wird dies unweigerlich zu einer extremen Belastung des Gesundheitswesens im Dezember führen. Möglicherweise wird es daher Ende November noch zu früh sein, um wieder zu einem ‚normalen‘ Alltag zurückzukehren“, warnt Lehr.
Covid-Simulator
Um die weitere Entwicklung mit präzisen Prognosen zu begleiten, haben die Saarbrücker Wissenschaftler die frei zugängliche Online-Plattform des Covid-Simulators jetzt noch weiter verfeinert, sodass man auch für alle Stadt- und Landkreise im Bundesgebiet die Infektionszahlen berechnen kann.
„Wir erfassen dafür nicht nur die Zahl der Coronavirus-Patienten, ihre stationäre Behandlung und die Todesfälle, sondern analysieren auch die vorhandenen Kapazitäten in den Kliniken. So können wir sehr früh auch für einzelne Regionen vorhersagen, wie viele Krankenhausbetten, intensivmedizinische Plätze oder Beatmungsplätze für die jeweiligen Infektionszahlen benötigt werden“, erläutert Lehr.
Die Saarbrücker Forscher veröffentlichen regelmäßig detaillierte Prognosen für alle Bundesländer, die der Politik und dem Gesundheitswesen als Entscheidungshilfe dienen sollen. Das Besondere des Covid-19-Simulators ist die breite Datenbasis, die für die aufwändigen Berechnungen verwendet wird:
Neben den Erhebungen des Robert-Koch-Instituts sowie der Kreis- und Landesgesundheitsämter werden beispielsweise die recherchierten Corona-Fallzahlen der „Berliner Morgenpost“ ergänzt. Zudem werden klinische Daten von über 8000 stationär behandelten Covid-19-Patienten aus über 100 deutschen Kliniken und verschiedene Angaben der Gesundheitsministerien ausgewertet. ■