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Energiewende

2022 hat Deutschland seine Klimaziele erneut verfehlt

Der Primärenergieverbrauch in Deutschland ist im Jahr 2022 wohl um 4,7 % deutlich gesunken. Bei den Treibhausgasemissionen hat die Rückkehr zur Kohle den Einspareffekt aber zunichte gemacht.

Entwicklung der Treibhausgasemissionen in Deutschland nach Sektoren 1990 bis 2021, Schätzung für 2022 und Minderungsziele 2020 bis 2030.

Agora Energiewende

Entwicklung der Treibhausgasemissionen in Deutschland nach Sektoren 1990 bis 2021, Schätzung für 2022 und Minderungsziele 2020 bis 2030.

Die erste amtliche, aber auch dann noch vorläufige Bilanz zu den Treibhausgasemissionen im Jahr 2022 wird das Umweltbundesamt (UBA) zum 15. März 2023 aufgrund einer im Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) vorgesehenen Verpflichtung vorlegen. Am 15. März 2022 wies die 2. KSG-Bilanz des UBA für das Jahr 2021 einen Anstieg der Treibhausgasemissionen in Deutschland um gut 33 Mio. t CO2-Äquivlaent (CO2e) bzw. um 4,5 % aus. Exakt diese Werte hatte Agora Energiewende schon am 07. Januar 2022 abgeschätzt. Am 04. Januar 2023 hat der Thinktank die Nachfolgestudie Die Energiewende in Deutschland: Stand der Dinge 2022 vorgelegt.

Im Jahr 2022 das Klimaziel für 2020 verfehlt

Laut der Studie ist im Jahr 2022 die zum Erreichen der deutschen Klimaziele erforderliche Reduktion der Treibhausgasemissionen ausgeblieben und stagnierte bei rund 761 Mio. t CO2e. Demnach lag die Emissionsminderung 2022 im Vergleich zum Referenzjahr 1990 bei knapp 39 % und damit zum zweiten Mal hinter dem 2020 erreichten Klimaziel von 40 %.

„Die Treibhausgasemissionen stagnieren auf hohem Niveau, und das trotz eines deutlich niedrigeren Energieverbrauchs von Haushalten und Industrie. Das ist ein Alarmsignal im Hinblick auf die Klimaziele“, sagt Simon Müller, Direktor Deutschland bei Agora Energiewende.

Laut der Auswertung von Agora Energiewende ist der Primärenergieverbrauch in Deutschland um 4,7 % beziehungsweise 162 TWh gegenüber 2021 zurückgegangen, unter anderem infolge der massiven Preissteigerungen bei Erdgas und Strom sowie milder Witterung. Der Primärenergieverbrauch sank unter das Niveau im Corona-Jahr 2020 und damit auf den tiefsten Stand im wiedervereinigten Deutschland.

„2023 muss die Regierung die Trendwende schaffen“

Der verstärkte Einsatz von Kohle und Öl machte die Emissionsminderungen durch Energieeinsparungen jedoch zunichte: Das Reduktionsziel im KSG für 2022 von 756 Mio. t CO2e, das sich aus der Summe der CO2e-Vorgaben für die Bereiche Energiewirtschaft, Gebäude, Verkehr, Industrie, Land- und Abfallwirtschaft ergibt (Anlage 2 zu § 4 KSG), wurde um 5 Mio. Tonnen knapp verfehlt. Und das, obwohl der Anteil der erneuerbaren Energien am Bruttostromverbrauch witterungsbedingt einen neuen Höchstwert von 46,0 % erreichte.

Müller: „2022 sind die Klimaziele aufgrund kurzfristiger Maßnahmen für die Energiesicherheit ins Hintertreffen geraten. Auch das im Koalitionsvertrag für 2022 angekündigte Klimaschutzsofortprogramm ist die Regierung schuldig geblieben. Dabei ist die Zustimmung zur Energiewende in der Bevölkerung deutlich gewachsen. Haushalte und Unternehmen wollen zu klimaneutralen Technologien wechseln und die Nachfrage nach Solaranlagen oder Wärmepumpen ist in die Höhe geschossen. 2023 muss die Regierung die Trendwende schaffen: raus aus den fossilen Energien und konsequent rein in die Erneuerbaren. Das hilft dem Klima, senkt die Preise und macht uns unabhängig von fossilen Energieimporten.“

Gebäude und Verkehr erreichen Klimaziele erneut nicht

Die Treibhausgasemissionen aus der Energiewirtschaft stiegen laut Agora-Abschätzung 2022 erstmals wieder an und betrugen zum Jahresende 255 Mio. t CO2e (+ 8 Mio. t CO2e im Vergleich zu 2021). Haupttreiber war die höhere Verstromung von Kohle aufgrund stark gestiegener Erdgaspreise. In Summe wurde damit das im KSG vorgeschriebene Reduktionsziel von 257 Mio. t CO2e nur knapp eingehalten.

Der Verkehrssektor und der Gebäudebereich verpassten hingegen erneut ihre Klimaziele: Der Gebäudebereich überzog mit 113 Mio. t CO2e das Sektorziel um 5 Mio. t CO2e. Der Einsparerfolg von − 16 % beim Erdgasverbrauch im Vergleich zum Vorjahr führte zwar zu einem Emissionsrückgang von 7 Mio. t CO2e gegenüber 2021, konnte aber die jahrelangen Versäumnisse bei der Wärmewende nicht ausgleichen.

Entwicklung der Treibhausgasemissionen im Gebäudesektor 1990 bis 2021, Schätzung für 2022 und jährliche Sektorziele 2020 bis 2030.

Agora Energiewende

Entwicklung der Treibhausgasemissionen im Gebäudesektor 1990 bis 2021, Schätzung für 2022 und jährliche Sektorziele 2020 bis 2030.

Im Verkehr lag der Treibhausgasausstoß mit 150 Mio. t CO2e deutlich über dem erlaubten Wert von 139 Mio. t CO2e. Gründe für die Zielverfehlung sind das nach dem Corona-Rückgang wieder angestiegene Verkehrsaufkommen und fehlende politische Maßnahmen zur Emissionsreduktion.

Die Industrie verzeichnete infolge von Spar- und Effizienzmaßnahmen sowie Produktionseinbußen mit 173 Millionen Tonnen CO₂ einen leichten Emissionsrückgang um 8 Millionen Tonnen. Trotz verstärktem Einsatz von Kohle und Öl als Ersatz für Erdgas hielt der Industriesektor damit das Klimaziel ein. Doch auch hier fehlen bislang die strukturellen Maßnahmen, um auf Kurs für das 2030-Klimaziel zu kommen.

Strom: Erneuerbaren-Energien-Anteil steigt auf Rekordhoch

Der Agora-Auswertung zufolge produzierten Erneuerbare Energien im Jahr 2022 mit 248 TWh (Mrd. kWh) so viel Strom wie nie zuvor – ein Plus von 22 TWh beziehungsweise 10 % gegenüber 2021. Dabei blieb die Windkraft mit 126 TWh größter Stromlieferant unter den Erneuerbaren. Gleichzeitig stieg die Stromproduktion aus Photovoltaik-Anlagen mit 60 TWh um 23 % gegenüber 2021 – dank eines überdurchschnittlich guten Sonnenjahrs und eines Zubaus in Höhe von 7,2 GW. Insgesamt betrug die Erneuerbaren-Energien-Kapazität am Jahresende 148 GW und damit 9,6 GW mehr als 2021.

Dennoch warnt Müller: „Das Rekordjahr für die erneuerbaren Energien ist wetterbedingt und damit kein struktureller Beitrag zum Klimaschutz.“ Deutschland steuere auf eine massive Lücke beim Erneuerbaren-Ausbau zu. Insbesondere die Ausbaukrise bei der Windenergie dauere an. Hier kamen 2022 nur rund 2 GW hinzu. Insgesamt waren 2022 neun von zehn Ausschreibungen für erneuerbare Energien unterzeichnet.

Müller: „Die Regierung muss jetzt entschieden und schnell nachbessern, denn wir brauchen ab 2023 eine Verdreifachung beim Zubau, um das 2030-Erneuerbaren-Ziel zu erreichen“, sagt Müller. In den kommenden acht Jahren muss hierfür der Zubau bei Solar auf 19 GW jährlich, bei Windkraft an Land auf 7 GW und bei Windkraft auf See auf knapp 3 GW im Jahresschnitt ansteigen.

Teures Erdgas: Kohleverstromung legt deutlich zu

Die konventionelle Stromerzeugung sank 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 9 %. Gründe waren der geplante Rückgang bei der Kernenergie, ein sinkender Stromverbrauch und das Plus bei den Erneuerbaren, das den leichten Exportanstieg übertraf. 2022 exportierte Deutschland 38 % mehr Strom nach Frankreich als im Vorjahr, vor allem aufgrund des Ausfalls von rund einem Drittel der französischen Kernkrafterzeugung seit April und dem Anstieg der vergleichsweise günstigeren Stromproduktion aus Kohle anstelle von Erdgas.

Insgesamt erzeugten konventionelle Kraftwerke 302 TWh Strom. Davon trugen Braunkohlekraftwerke mit 109 TWh den größten Teil bei (+ 7 % im Vergleich zu 2021). Aus Steinkohlekraftwerken kam 20 % mehr Strom, sodass sie auf 60 TWh kamen. Dahingegen sank die Erzeugung aus Gaskraftwerken um 16 % auf 75 TWh. Nachdem Ende 2021 planmäßig 4 GW installierte Kernkraftleistung vom Netz ging, lieferten Kernkraftwerke im vergangenen Jahr 33 TWh Strom (− 50 % im Vergleich zu 2021).

Die Rückkehr zur Kohle war zum einen durch den hohen Erdgaspreis bedingt, der die Kohleverstromung fast über das ganze Jahr hinweg günstiger machte als den Einsatz von Gaskraftwerken. Zum anderen waren 2022 als Reaktion auf Gas-Versorgungsengpässe Kohlekraftwerke zurück ans Netz geholt worden, sodass Ende 2022 eine um 2 GW höhere Kohlekapazität im Markt als Ende 2021 war.

Müller: „Die Rückkehr der Kohle steht im klaren Widerspruch zu den Klimazielen. Wir brauchen mehr Tempo beim Erneuerbaren-Ausbau, um Emissionen zu senken und wir müssen den Kohleausstieg 2030 absichern.“ Dies sei auch zentral, um die absehbar höhere Stromnachfrage durch mehr Elektroautos, Wärmepumpen und strombasierte Industrieprozesse klimafreundlich zu decken.

Fossile Energiepreisrallye

Erdgas-, Kohle- und Erdölpreise stiegen an den Großhandelsmärkten in Deutschland und Europa im Jahr 2022 auf Rekordhöhen: Gegenüber dem Jahresmittelwert 2021 stiegen die Preise 2022 an den Energiebörsen im Durchschnitt um 167 % für Erdgas, um 157 % für Steinkohle und um 54 % für Mineralöl. Die Preisausschläge drückten den Strom- und Erdgasverbrauch ab März und dann gegen Jahresende nochmal deutlich, als die hohen Strompreise für Haushalte in den Abschlagszahlungen sichtbar wurden. 

2023 bleiben die Energiepreise voraussichtlich auf hohem Niveau, erwartet Müller: „Gerade der schnelle Ausbau von Solarenergie kann jedoch die Preise zügig dämpfen.“ Neben dem Erneuerbaren-Turbo sei eine Elektrifizierungsoffensive durch Wärmepumpen in Haushalten und Industrie zentral. „Die Regierung muss jetzt schnell das Potenzial der erneuerbaren Energien, von Effizienz und Elektrifizierung für die Krisenbewältigung aktivieren, sodass wir bis Ende 2023 unabhängiger von fossilen Energien und von deren volatilen Preisen sind.“ ■
Quelle: Agora Energiewende (2023): Die Energiewende in Deutschland: Stand der Dinge 2022. Rückblick auf die wesentlichen Entwicklungen sowie Ausblick auf 2023. / jv

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