Wird das Potenzial von klimaneutralem Wasserstoff zum Heizen ‚maßlos‘ unterschätzt? Es gibt zahlreiche Faktoren, die dagegen sprechen. Der wichtigste: Kurzfristig ist er gar nicht verfügbar, uns geht aber die Zeit aus.
In einem Gastkommentar (Ein Hebel für den Klimaschutz: Wie Wasserstoff beim Heizen genutzt werden kann) werben Kerstin Andreae, Hauptgeschäftsführerin des BDEW, und Maximilian Viessmann, Co-CEO von Viessmann, dafür, das „maßlos“ unterschätzte Potenzial von Wasserstoff zum Heizen zu nutzen.
Sie argumentieren u. a. mit der bei einer Zumischung ins Erdgasnetz weiter zu nutzenden Infrastruktur und mit Heizungstechnik, die problemlos mit Erdgas-Wasserstoff-Gemischen umgehen kann. Je früher der Wärmemarkt auf Wasserstoff als Energieträger vorbereitet werde, desto eher würden die Kosten für die Energiewende gesenkt. Würden „nur 10 % Prozent des Erdgasverbrauchs in Deutschland durch Wasserstoff ersetzt, könnten auf einen Schlag 6,5 Mio. t CO2 jährlich vermieden werden“.
Eine direkte Antwort aus Berlin ist nicht zu erwarten, mir brennt sie aber auf den Nägeln. Trotz großer persönlicher Begeisterung für den aufgezeigten Weg bin ich davon überzeugt, dass eine „Freigabe des Wärmemarkts für Wasserstoff“ der falsche Hebel für den Klimaschutz wäre.
Faktor Zeit
Das Beispiel der 10-%-Beimischung suggeriert, dass große Mengen klimaneutralen Wasserstoffs frei verfügbar sind und die Politik den Zugang zum Erdgasnetz blockiert. Für das Jahr 2020 gibt der BDEW einen Erdgasverbrauch von 939 TWh (vorläufig) an. 10 % (energetisch) davon sind 94 TWh. Derzeit wird Wasserstoff gezielt nahezu ausschließlich aus Erdgas und Kohle für zahllose Anwendungen in Industrie und Technik hergestellt, weltweit ca. 70 Mio. t/a. Aber nur ca. 5 % davon werden gehandelt. Wir müssten von der gehandelten Menge zwei Drittel aufkaufen, um mit 10 % Beimischung zu starten. Doch dieser Wasserstoff hätte einen höheren ökologischen Rucksack als Erdgas. In den nächsten Jahren wird es deutlich mehr grünen und auch blauen Wasserstoff geben, er wird aber lange Zeit Mangelware bleiben.
Faktor Geld
Wäre Wasserstoff gleich welcher Farbe inklusive der nachgeschalteten Nutzung in absehbarer Zeit konkurrenzfähig, würde es keine Diskussion über die Nutzung im Wärmemarkt geben. Würde man dafür die Wirtschaftlichkeit erhöhen, beispielsweise durch einen abgesenkten Primärenergiefaktor für Erdgas im Gebäudeenergiegesetz, würde die CO2-Einsparung weitgehend verpuffen.
Faktor Logistik
Um Erdgas saldiert 10 % Wasserstoff in einem Toleranzbereich von 0 bis 20 % beizumischen, sind erhebliche Investitionen erforderlich. Man benötigt zahlreiche Einspeisepunkte, Wasserstoffspeicher und Transportwege von der Erzeugung bis zur Einspeisung. Erfolgversprechende Projekte mit Wasserelektrolyse sind eher klein und nutzen Standortvorteile: Sie haben auch eine Verwendung für den abgespaltenen Sauerstoff und die Abwärme. Und sie bekommen zumeist eine signifikante finanzielle Unterstützung.
Einspeisung von Wasserstoff ins Erdgasnetz anders denken
Es ist gut, wichtig und richtig, dass wir Wasserstoff ins Erdgasnetz einspeisen und es so zum Erreichen der Klimaziele nutzen können. Beispielsweise könnte es einige Zeit wirtschaftlich vorteilhaft sein, CO2-Emissionen aus dem Verkehr über eine Einspeisung von klimaneutralem Wasserstoff ins Erdgasnetz zu kompensieren. Bei den Erdgasabnehmern dürfte der geringere CO2-Fußabdruck aber nicht angerechnet werden.
Der Gebäudesektor wird die Nutzung von Gas zurückfahren müssen. Nicht weil die Dekarbonisierung nicht möglich wäre, sondern weil sie nicht rechtzeitig realistisch ist. Wir haben zu lange gezaudert.
Jochen Vorländer
Chefredakteur TGA Fachplaner
vorlaender@tga-fachplaner.de
Alle TGAkommentare finden Sie im TGAdossier TGA-Leitartikel.
Der Artikel gehört zur TGA-Themenseite Wasserstoff