Das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE und das Fraunhofer-Institut für Energiesysteme Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik IEE haben im Auftrag des Nationalen Wasserstoffrats (NWR) verschiedene Pfade zur Dekarbonisierung des Wärmemarkts analysiert und bewertet. Bringt man die vorab präsentierten Leitsätze in Einklang, ist eine größere Verbreitung von Wasserstoff-Heizungen kaum realistisch.
Im deutschen Wärmemarkt gibt es regionale und strukturelle Unterschiede: Die Vielfalt der Gebäude und der gewerblichen und industriellen Struktur und die lokalen Energieinfrastrukturen entscheiden, welche Technologien den kostenoptimalen Versorgungsmix bereitstellen können – wenn alle relevanten Akteure einer entsprechenden und auf Jahrzehnte angelegten Wärmeplanung folgen.
Ausgehend von vier realen Versorgungsgebieten schließt die Studie mit ihrem Bottom-up-Ansatz eine Forschungslücke. Sie zeigt Optionen für die effiziente Dekarbonisierung des Wärmesektors und Erkenntnisse für die kommunale Wärmeplanung auf.
Auf Basis der Klimaziele muss ab 2045 der lokal und regional organisierte Wärmesektor klimaneutral sein. Aufgrund der großen Dimension muss dieses Ziel volkswirtschaftlich kosteneffizient und für den Wärmenutzer bezahlbar erreicht werden. Die Studie wurde in einem Zeitraum erstellt, in dem die Energiemärkte aufgrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine erheblichem Druck und Veränderungen unterliegen. Gleichzeitig hat sich im Wärmesektor durch die hohen Energiepreise eine neue Dynamik entwickelt, die dessen Umbau beschleunigen wird und das Thema Bezahlbarkeit in den Fokus gerückt hat.
Katherina Reiche, Vorsitzende des NWR: „Die Dekarbonisierung der Wärmeversorgung gehört zu den größten Herausforderungen auf dem Weg zur Klimaneutralität. Wir müssen effiziente und nachhaltige Lösungen schaffen, die gleichzeitig auch sozial fair sind. Dabei gilt: Die Wärmewende findet lokal statt. Jede Kommune, jeder Stadtteil ist anders. Um dieser Komplexität und Individualität vor Ort gerecht zu werden, bedarf es eines dezentralen Betrachtungsansatzes. Deshalb haben wir Fraunhofer beauftragt, mit der Bottom-up-Studie Pfadoptionen aufzuzeigen.“
Bottom-up-Ansatz berücksichtigt lokale Besonderheiten
Der Bottom-up-Ansatz der Studie berücksichtigt die regionalen und lokalen Unterschiede in der Gebäude- und Prozesswärme in vier unterschiedlich ausgeprägten Versorgungsgebieten: Fellbach ist urban, aber nicht-industriell geprägt, Mainz sowohl urban als auch industriell. Burg bei Magdeburg ist ländlich, aber industriell geprägt, Westerstede ländlich und nicht-industriell.
Das Forscherteam erhob Daten (z. B. jährlicher Wärmebedarf und Stromverbrauch, Gebäudetypen, Kraftwerkspark) und generierte stündliche Nutzenergieprofile (z. B. Haushaltsstrom, Raum- und Prozesswärme). Auf Basis dieser Daten wurde mit dem Rechenmodell District das Energiesystem für fünf Szenarien optimiert, die sich u.a. hinsichtlich Strom- und Wasserstoffkosten und -verfügbarkeit unterscheiden. Für die Jahre 2025 bis 2045 wurden schließlich ausgewählte Strom- und Gasnetzgebiete simuliert.
Ein wichtiges Studienergebnis ist laut Sebastian Herkel, Leiter der Abteilung Energieeffiziente Gebäude am Fraunhofer ISE: „Eine One-Size-Fits-All-Lösung existiert für den Wärmemarkt nicht. Transformationspfade müssen alle wesentlichen Technologien als mögliche Lösungsoption beinhalten, um für die lokal sehr unterschiedlich ausgeprägten Versorgungsaufgaben unter Einbeziehung aller Gesichtspunkte zu bestmöglichen Lösungen zu gelangen. Dies muss mit verpflichtenden kommunalen Wärmeplanungen angegangen werden. Bei der Erstellung von kommunalen Wärmeplänen sollten einheitliche Rahmenbedingungen zu technischen und ökonomischen Randbedingungen als Vorgaben fixiert und regelmäßig aktualisiert werden.“
Breiter Technologiemix
Für die Umsetzung einer klimaneutralen Wärmeversorgung in 2045, so die Autorinnen und Autoren der Studie, werde der Ausbau von Photovoltaik, Windkraft, Fernwärme, Solarthermie, Geothermie, Biomasse und Wasserstoff benötigt. Alle Szenarien gehen von einem starken Hochlauf der Photovoltaik- und Wärmepumpenleistungen und dem Beginn des Wasserstoffhochlaufs für die industrielle Anwendung und die zentrale Wärmeerzeugung aus. Während die Wärmepumpe die primäre Dekarbonisierungstechnologie in der Raumwärme darstellt, sichert der Einsatz von Wasserstoff das Erreichen der langfristigen Klimaziele (nach 2030) in Industrie und Energieerzeugung (Fernwärme) ab.
Dr. Jörg Bergmann, Leiter der Arbeitsgruppe Infrastruktur und Wärme des NWR unterstreicht: „Mit Wasserstoff wird die Energiewende sicherer und bezahlbarer. Es ist wichtig, nun sehr schnell große Mengen günstigen Wasserstoff verfügbar zu machen – nicht nur für die Großindustrie, sondern auch für die an das Verteilnetz angeschlossenen Industrie- und Gewerbebetriebe sowie die (Fern-)Wärmeversorgung. Dafür benötigen wir umgehend eine leistungsfähige Wasserstoffinfrastruktur in Deutschland.“
Umgekehrt bedeutet dies: Gibt es nicht schnell große Mengen günstigen Wasserstoff und nicht frühzeitig eine leistungsfähige Wasserstoffinfrastruktur in Deutschland, sind die Szenarien, die genau dies voraussetzen unrealistisch.
Integrierte Versorgungsinfrastrukturen sind zwingend
Wie groß die Herausforderungen sind, um überhaupt alle Technologien im Rennen zu behalten bzw. Wasserstoff ins Rennen zu bringen, verdeutlichen folgende Botschaften:
„Für eine erfolgreiche Wärmewende müssen die Entwicklungspläne einer nationalen und europäischen Wasserstoffinfrastruktur mit der Transformation der regionalen Versorgungsinfrastrukturen in Einklang gebracht werden. Verteilnetzbetreiber sollten auf Basis der kommunalen Wärmeplanung eine spartenübergreifenden, multimodalen Zielplanung für Strom-, Gas- und Wärmenetze erstellen. Der Aufbau eines leistungsfähigen Wasserstoffnetzes und der nachgelagerten Infrastrukturen für die relevanten Anwendungen ist dabei eine zwingende Voraussetzung.“
Matthias Lenz, Geschäftsfeldleiter Netzplanung und Netzbetrieb, Fraunhofer IEE: „Die Netzbetreiber benötigen Investitionssicherheit. Die Studie hebt die Notwendigkeit für die Verteilnetzbetreiber hervor, auf Basis der kommunalen Wärmeplanung unverzüglich mit einer spartenübergreifenden, multimodalen Zielplanung für Strom-, Gas- und Wärmenetze zu beginnen und diese zu operationalisieren.“ Dafür ist die zukünftige lokale Versorgungsaufgabe der Verteilnetze, insbesondere die Versorgung lokaler Industrie- und Gewerbeunternehmen ist zu ermitteln und um einen sinnvoll angepassten regulatorischen Rahmen zu ergänzen. In diesem Prozess ist ein direkter Dialog zwischen Versorgern, Kommune und Unternehmen im Kontext der kommunalen Wärmeplanung unerlässlich.
Detail-Ergebnisse für die vier Versorgungsgebiete
Die Gesamtlösung für die Wärmebereitstellung variiert abhängig vom Anteil der Prozesswärmenachfrage, Einwohnerdichte, Gebäudestruktur und lokalen Potenzialen an Umweltwärme und zur Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien. In Gebieten ohne oder mit geringem Prozesswärmebedarf (Westerstede, Fellbach) erfolgt die Bereitstellung der Raumwärme abhängig vom Szenario überwiegend durch Wärmepumpen und Fernwärme. Wasserstoff kann in solchen Gebieten zunächst in der Fernwärme zum Einsatz kommen.
Wenn der Prozesswärmebedarf in der Industrie den Raumwärmebedarf deutlich übersteigt (Burg), entscheidet die Dekarbonisierungsstrategie der energiebeziehenden Unternehmen über den Transformationspfad des Versorgungsgebietes.
Lokale Quellenverfügbarkeit und bestehende Infrastruktur sind entscheidend für Energieträger. So werden in Mainz, wo Raum- und Prozesswärmebedarf ähnlich hoch sind, bereits vorhandene Fernwärmenetze stärker ausgelastet. Die Prozesswärme wird in Mainz zum einen durch Großwärmepumpen in Verbindung mit direkter Elektrifizierung und zum anderen durch wasserstoffbasierte Fernwärme und Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen bereitgestellt.
Im Prinzip Planwirtschaft
Die vorstehenden Aussagen sind nachvollziehbar, allerdings ist es kaum realistisch, dass sich alle „Betroffenen“ konsistent verhalten werden. Jedes der fünf Szenarien kommt durch die unterschiedlichen Rahmenbedingungen über einen sehr langen Zeitraum naturgemäß zu unterschiedlichen Lösungen. Es ist allerdings unrealistisch, dass die Realität die angenommen Rahmenbedingungen widerspiegelt.
Allein die idealisierte Annahme, dass man sich in allen Versorgungsgebieten tatsächlich an der lokal bestmöglichen Dekarbonisierungsstrategie ausrichtet, kann so große Rückkopplungseffekte haben, dass die dadurch veränderten Rahmenbedingungen an vielen Stellen zu einer ganz anderen Dekarbonisierungsstrategie führen würden.
Verhalten sich aber die Akteure – sofern lokal ein industrieller Energieverbraucher dominierend ist, nur ein Akteur – anders als es die (kosten)optimale Dekarbonisierungsstrategie aufzeigt, würde daraus unter Umständen eine ganz neue Dekarbonisierungsstrategie entstehen. Abhängig vom Zeitpunkt des abweichenden Verhaltens könnten sogar bereits getätigte Investitionen in großem Umfang verloren gehen.
Da eine volkswirtschaftlich kosteneffiziente Dekarbonisierungsstrategie nicht automatisch bedeutet, dass sie aus der Sicht alle betroffenen Energiekunden ebenfalls die optimale Lösung ist, ist abweichendes Verhalten quasi vorprogrammiert. Dass sich diese Abweichungen gegenseitig aufheben, ist kaum zu erwarten.
Ableitungen aus den Vorabveröffentlichungen
Über die Studie wird schon seit Anfang 2021 gesprochen, veröffentlicht werden soll die vollständige Studie nun am 14. Dezember 2022. Am 28. November 2022 wurde bereits eine Kurzfassung der „Bottom-Up Studie zu Pfadoptionen einer effizienten und sozialverträglichen Dekarbonisierung des Wärmesektors“ veröffentlicht und vorgestellt (Präsentation zur Bottom-Up Studie Wärmesektor).
Das grünem Wasserstoff eine Schlüsselrolle bei der Energiewende und den Klimazielen zukommt, ist aus heutiger Sicht ein Fakt. In welchem Umfang dies auch auf die dezentrale Erzeugung von Raumwärme zutrifft, ist umstritten. In diesem Zusammenhang zeigen die Ableitungen aus den Vorabveröffentlichungen, dass bei der Dekarbonisierung des Raumwärmemarkts mindestens bis 2030 Wasserstoff-Heizungen keine Relevanz haben. Die tragende Rolle kommt in diesem Zeitfenster elektrisch angetriebenen Wärmepumpen zu:
(●) „Die Bottom-Up-Betrachtung weist eine hohe Komplexität auf, die im Hinblick auf die kommunale Wärmeplanung und Klimaschutzmaßnahmen mit ausreichend Ressourcen zu hinterlegen ist. Untersuchungen sind für alle Versorgungsgebiete über alle Bestandsinfrastrukturen regional spezifisch durchzuführen. […]“
(●) „Die hohe Kongruenz der Szenarien in der Phase bis 2030 sollte intensiv genutzt werden, um in dieser Zeit alle Vorbereitungen für die Entscheidung zu treffen, mit welchen Verteilnetzinfrastrukturen die Gebiete versorgt werden. Dazu gehören die kommunale Wärmeplanung, Information der Gebäudebesitzer über die verfügbaren Optionen, Herstellung einer Verbindlichkeit für Ausbau, Umstellung oder Rückbau. Dies schafft Raum und Zeit für soziale Akzeptanz, sowie die Möglichkeit der Partizipation bei der lokalen Lösungsfindung.“
(●) „Bei einer Einführung von verpflichtenden kommunalen Wärmeplänen sollten zum jetzigen Zeitpunkt keine Technologieoptionen ausgeschlossen werden, insbesondere die Belange auf Prozesswärme und teilweise auf Prozessgase angewiesenen Industrie- und Gewerbebetriebe sind vor allem mit Blick auf eine frühzeitige Infrastrukturentwicklung zu beachten.“
(●) „Der Ausbau von Wärmepumpen ist in allen Versorgungsgebieten die primäre Dekarbonisierungsstrategie in der Raumwärme bis 2030, aber auch langfristig bis 2045. In verdichteten Gebieten müssen weitere Verbraucher an die Fernwärme angeschlossen werden. Der Ausbau ausreichender Planungs-, Installations- und Produktionskapazitäten ist essenziell.“
(●) „Der Einsatz von Wasserstoff sichert das Erreichen der langfristigen Klimaziele (nach 2030) in der Industrie und Energieerzeugung (Fernwärme) ab. Sofern die Marktentwicklung zu niedrigen Wasserstoffendkundenpreisen führt, erweitert sie den Lösungsraum für die Dekarbonisierung der privaten Haushalte. Die Szenarien zeigen, dass für die ökonomische Attraktivität des Einsatzes von Wasserstoff in der dezentralen Raumwärme die Wasserstoffendkundenpreise höchstens halb so hoch wie die Stromendkundenpreise sein sollten. Zusätzlich zum Hochlauf des Erzeugungsmarktes ist ein vorausschauender Aus- bzw. Umbau der notwendigen Infrastrukturen zwingend erforderlich.“
(●) „Für eine erfolgreiche Wärmewende ist nach erfolgreich durchgeführter kommunaler Wärmeplanung über geeignete regulatorische Maßgaben eine Verbindlichkeit zur Umsetzung auf der kommunalen Ebene herzustellen, da sonst Interessenskonflikte und anderweitige gesetzliche Verpflichtung, wie z. B. die Gewährleistung der Versorgungssicherheit bei allen Kunden, dazu führen könnten, dass die kommunale Wärmewende unnötig verteuert, verlangsamt oder verhindert wird.“
(●) „Die Gesamtkosten der Szenarien zeigen in jedem Gebiet geringe Differenzen zwischen den Transformationspfaden und sind geprägt durch die Verbrauchskosten. Liegt einer der Energieträger im hohen Preispfad oder beide im durchschnittlichen, steigen die Gesamtkosten, […]“
(●) „Der Weg bis 2030 ist in allen Szenarien sehr ähnlich und durch einem starken Hochlauf der Photovoltaik- und Wärmepumpenleistungen zur Erreichung der Ziele des Klimaschutzgesetzes geprägt. Der Energieträger- und Heizungstechnologiewechsel in Richtung Strom und Wärmepumpen erfolgt in jedem Szenario in allen Bereichen (also Einfamilienhäusern, Mehrfamilienhäusern und auch GHD- sowie Fernwärmeanwendungen). Gleiches gilt für den Beginn des Wasserstoffhochlaufes für die industriellen Anwendungen und die zentrale Wärmeerzeugung, der bis 2030 initiiert wird.“
Neuausrichtung im Wärmeerzeugermarkt ab 2030?
Ein Bestand von 6 Mio. Heizungs-Wärmepumpen bis 2030 im Gebäudesektor ist spätestens mit dem Wärmepumpengipfel vorgezeichnet. Ein halbwegs gesunder Zubaupfad, mit dem politisch ausgerufenen Eckpunkt „mindestens 500 000 Wärmepumpen pro Jahr ab 2024“ bedeutet die Installation von etwa 765 000 Wärmepumpen im Jahr 2030. Danach einen Schwenk bei der Installationskapazität auf Wasserstoff-Heizungen zu machen, ist aus heutiger Sicht kaum vorstellbar.
Im Prinzip könnte man die Zeit bis 2030 nutzen, parallel zum Wärmepumpen-Rollout notwendige Erneuerungen von Gas-Heizungen er mit Wasserstoff-fähigen Heizkesseln vorzunehmen, doch dies wäre nur mit einer starken Dehnung der angekündigten 65-%-Klausel für erneuerbare Energien kompatibel. Zudem müsste man schon bald wissen, in welchen Netzen Wasserstoff künftig mit welcher Wahrscheinlichkeit eine aus Kundensicht wirtschaftliche Alternative für den Gebäudesektor ist. Dass diese Informationen schnell überall zur Verfügung stehen, ist kaum realistisch. ■
Quelle: NWR / jv
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