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Klimaziele

Wie Deutschland bis 2035 CO2-neutral werden kann

Nahezu klimaneutral bis 2050? Was beim ersten Ausrufen durch die Bundesregierung noch vorbildlich war, ist heute längst überholt. Das noch verbleibende CO2-Budget erfordert deutlich größere Anstrengungen, um einen gerechten Beitrag zum Pariser Übereinkommen zu leisten.

2015 hatte damit die internationale Staatengemeinschaft vereinbart, die Erderwärmung auf deutlich unter 2 °C, möglichst aber auf 1,5 °C zu begrenzen. Das Ende 2019 beschlossene Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) sieht vor, dass Deutschland bis 2050 treibhausgasneutral wird. Dies ist allerdings nicht vereinbar mit einer Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 °C.

Das Ziel im KSG ist schon seit 5 Jahren überholt

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) geht davon aus, dass in Deutschland CO2-Neutralität schon bis etwa 2035 erreicht werden muss, wenn ein angemessener Beitrag zum globalen 1,5-Grad-Ziel geleistet werden soll. Die über CO2 hinausgehenden Treibhausgasemissionen müssen danach ebenfalls sehr schnell sinken.

Der SRU legt dabei zugrunde, dass die Pro-Kopf-Emissionen weltweit gleich verteilt werden und Deutschland keinen überproportionalen Anteil beanspruchen darf. Doch wie lässt sich dieses Ziel noch rechtzeitig erreichen? Hierzu versucht eine Studie Diskussionsimpulse zu geben. Die Studie wurde vom Wuppertal Institut mit finanzieller Unterstützung der GLS Bank für Fridays for Future Deutschland erarbeitet.

Klimaneutrales Energiesystem bis 2035 ist machbar

Die Studie CO2-neutral bis 2035: Eckpunkte eines deutschen Beitrags zur Einhaltung der 1,5-°C-Grenze zeigt, dass ein klimaneutrales Energiesystem bis 2035 zwar sehr ambitioniert, aber grundsätzlich machbar ist –­ sofern alle aus heutiger Sicht möglichen Strategien gebündelt werden. Notwendig dafür ist vor allem ein Vorziehen und Intensivieren von Maßnahmen, die in vielen Studien als notwendig beschrieben werden, um Treibhausgasneutralität bis 2050 zu erreichen.

Fairer Beitrag erfordert schnelles Handeln

Eile ist grundsätzlich geboten. „Um eine Chance zu haben, die Erderwärmung auf 1,5 °C zu beschränken, müssten die deutschen Emissionen insbesondere in den kommenden fünf Jahren – und damit vor allem in der nächsten Legislaturperiode – dramatisch abnehmen“ mahnt Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick, wissenschaftlicher Geschäftsführer des Wuppertal Instituts.

„Ein fairer Beitrag zur Einhaltung der 1,5-°C-Grenze kann nur noch geleistet werden, wenn die kommende Bundesregierung die Transformation des Energiesystems als Kernthema angeht und ihre Politik konsequent auf das Ziel eines klimaneutralen Energiesystems bis 2035 ausrichtet. Ohne schnelle CO2-Emissionseinsparungen und eine Priorisierung von Klimaschutz in allen Politikbereichen dürfte das nicht zu schaffen sein“, betont Dr. Sascha Samadi, Mitautor der Studie und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Zukünftige Energie- und Industriesysteme am Wuppertal Institut.

Um das 1,5-°C-Budget einzuhalten, sind unter der Voraussetzung weltweit gleicher Pro-Kopf-Emissionen CO2-Minderungen von mindestens minus 60  bis 2025 und mindestens minus 85 % bis 2030 (jeweils gegenüber 1990) erforderlich. Denn entscheidend dafür, die Risiken und Auswirkungen des Klimawandels erheblich verringern zu können, sind die kumulierten Emissionen. Eine gleichmäßige, lineare Minderung bis 2035 ist dafür allerdings nicht ausreichend (siehe Grafik).

Energiewirtschaft, Industrie, Verkehr und Gebäude im Fokus

In der Studie untersuchten die Forschenden des Wuppertal Instituts auf der Basis bestehender Energieszenarien und weitergehender Überlegungen, wie sich CO2-Neutralität besonders in den Sektoren Energiewirtschaft, Industrie, Verkehr und Gebäude bereits bis 2035 umsetzen ließe. Dafür sind aus ihrer Sicht u. a. folgende Maßnahmen erforderlich:

Im Gebäudebereich ist eine massive und nie dagewesene Steigerung der energetischen Sanierungsrate auf eine Höhe von etwa 4 %/a notwendig – aktuell liegt die Rate bei lediglich rund 1 %/a.

● Für die Steigerung der energetischen Sanierungsrate ist ein umfassender Maßnahmenmix notwendig, der etwa von einer verpflichtenden Sanierung beim Immobilienverkauf oder -erbe über eine wirkungsvolle CO2-Bepreisung bis hin zu einer Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive im Handwerk und beschleunigter Einführung innovativer Verfahren, wie industrieller Vorfertigung von Sanierungselementen, reicht.
● Heute liegt der Anteil an installierten fossilen Heizungen noch bei fast 80 %, mit der Zielsetzung CO2-Neutralität müsste schon kurzfristig eine Trendumkehr erfolgen. Spätestens in der nächsten Legislaturperiode müsste die Entscheidung getroffen werden, dass keine neuen fossil befeuerten Heizungen mehr installiert werden dürfen. Stattdessen sollte der Fokus bei neu eingebauten Heizungen zukünftig auf Wärmepumpen liegen.

In der Energiewirtschaft müssten die Ausbauziele der Bundesregierung von Wind- und Solarenergie insgesamt mindestens 25 GW/a Jahr betragen – mehr als eine Verdopplung gegenüber den aktuellen Zielen der Regierung.

● Insbesondere der Ausbau der Windenergie an Land (Onshore) müsse in Schwung gebracht werden ­– hier sind nach Ansicht der Forschenden mindestens 7 oder besser 10 GW/a erforderlich.
● Für ein CO2-neutrales Energiesystem ist Wasserstoff – unter anderem für die Stahlerzeugung – unerlässlich. Bisher sieht die Wasserstoffstrategie der Bundesregierung frühestens 2035 eine Elektrolyse-Leistung von lediglich 10 GW vor. Für ein klimaneutrales Energiesystem bis 2035 müssten bis dahin allerdings voraussichtlich 70 bis 90 GW an installierter Kapazität erreicht werden, sofern nicht bereits 2035 klimaneutrale Energieträger in sehr großem Umfang importiert werden können.

In einigen energieintensiven Industriebranchen erreicht rund die Hälfte der Industrieanlagen in den kommenden zehn Jahren das Ende ihrer vorgesehenen Lebensdauer.

● Diese Anlagen müssen durch klimaverträgliche neue Prozesse ersetzt werden, zudem müssen bestehende Anlagen bis 2035 auf nicht-fossile Technologien umgestellt werden, sofern sie weiter in Betrieb bleiben sollen.
● Zusätzlich muss ein Wasserstoff-Pipelinenetz innerhalb weniger Jahre errichtet werden, da Wasserstoff für viele Industriebereiche den zentralen Schlüssel für die Umstellung darstellt.
● Damit die klimaneutralen Schlüsseltechnologien einen Preisvorteil gegenüber den konventionellen CO2-intensiven Technologien erreichen, muss der CO2-Preis schon kurzfristig deutlich ansteigen.
● Zum Schutz gegen die Verlagerung von CO2-Emissionen und zur Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie ist ein effektiver „Carbon-Leakage-Schutz“ notwendig, also Maßnahmen, die vermeiden, dass CO2-intensive Produktionsverfahren in Länder mit weniger strengen Klimaschutzvorgaben verlagert werden.

„Auch, wenn möglicherweise noch Unsicherheiten über die langfristig beste Lösung bestehen, muss der Aufbau der Infrastruktur für eine klimaneutrale Industrie schon heute beginnen. Andernfalls reicht die Zeit für den Umbau gegebenenfalls nicht aus. Daher müssen jetzt Entscheidungen getroffen werden und die Umsetzung sehr schnell beginnen“, betont Dr. Georg Kobiela, ebenfalls Mitautor der Studie und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Zukünftige Energie- und Industriesysteme am Wuppertal Institut.

Der Verkehr in Deutschland muss für die Zielerreichung CO2-Neutralität bis 2035 erheblich verringert werden. Verantwortlich für den hohen Energiebedarf sind maßgeblich der Pkw- und der Lkw-Verkehr. Im Vergleich zur Bahn benötigt ein Auto mit Verbrennungsmotor das 4,8-fache an Energie pro Kilometer und Person, ein Lkw das 5,6-fache pro Tonne und Kilometer gegenüber der Güterbahn. Den Verkehr betreffende Schritte sind insbesondere:

● konsequente Maßnahmen für Verkehrsvermeidung und -verlagerung
● beschleunigte Einführung alternativer Antriebe, vor allem Elektro-Pkw

● signifikant höhere CO2-Preise auf fossile Kraftstoffe als zentrales Anreizinstrument
● Parallel dazu: Abschaffung klimaschädlicher Subventionen wie Steuerbefreiung von Flugbenzin, Dieselprivileg, Dienstwagenprivileg, Subventionen für Regionalflughäfen, bevorzugter Investitionen in Straßenbau und stattdessen beschleunigter Ausbau von öffentlichem Verkehr, Rad- und Fußinfrastruktur.

Große Herausforderungen erfordern beispiellose politische Anstrengungen

Die skizzierten Szenarien zur Zielerreichung bis 2035 erfordern in allen Sektoren die parallele Umsetzung vielfältiger Maßnahmen. Sie stellen jeweils für sich stehend schon große Herausforderungen dar und erfordern beispiellose politische Anstrengungen. Auch Unternehmen müssen bereit sein und die Möglichkeit haben, den Transformationsprozess mitzugestalten – ohne die globale Wettbewerbsfähigkeit einzubüßen.

„Um die 1,5-°C-Grenze einzuhalten, ist vor allem aber die breite Zustimmung der Gesellschaft notwendig. Dafür muss der Transformationspfad gerecht ausgestaltet und soziale Aspekte berücksichtigt werden“, mahnt Fischedick.

Stimmen aus der Branche

Dr. Simone Peter, Präsidentin des Bundesverbands Erneuerbare Energie (BEE) „Wir sind gut beraten, die Forderungen von Fridays for Future zu Maßnahmen einer drastischen CO2-Minderung ernst zu nehmen. Sie beruhen auf wissenschaftlicher Expertise und der Empfehlung, der fortschreitenden Klimakrise entschiedener als bisher entgegen zu treten und die technologischen Chancen in Deutschland umfassend zu nutzen.“

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Andreas Kuhlmann, Vorsitzender der Geschäftsführung der Deutschen Energie-Agentur (dena): „Die vom Wuppertal-Institut im Auftrag von Fridays for Future erstellte Studie beschreibt Eckpunkte, die für eine Klimaneutralität Deutschlands bereits im Jahr 2035 umgesetzt werden müssten. Sie weist zu Recht darauf hin, dass die gegenwärtigen ebenfalls sehr ambitionierten Zielvorgaben der Bundesregierung für die sich aus dem Pariser Klimaabkommen ergebenden Zielvorgaben für Deutschland nicht ausreichen.

Bedauerlicherweise fehlt es den darin beschriebenen Eckpunkten an nachvollziehbaren Machbarkeitspfaden. Sie enthält im Gegenteil Eckpunkte, die ein Erreichen der von dieser Studie anvisierten Ziele eher als unerreichbar erscheinen lässt. Zu nennen ist hier beispielhaft eine quasi sofortige 4%ige Sanierungsrate oder der großskalige Import von klimaneutralem Wasserstoff bis 2035. Es ist daher durchaus möglich, dass diese Studie dem dringend erforderlichen konkreten Diskurs über eine zielführende Rahmensetzung eher im Wege steht. Klimaschutz ist eine allumfassende gesellschaftliche Herausforderung. Viele Disziplinen sind hier gefragt, was auch im Kontext der Pariser Klimaziele (SDG13) und all den anderen Sustainable Development Goals zu erkennen ist.

Es wird nun höchste Zeit, dass die damit verbundenen Diskussionen geerdet und mit konkreten Pfaden unterlegt werden. Daran arbeiten wir aktuell mit einer Vielzahl von Stakeholdern und Gutachtern in der dena-Leitstudie Aufbruch Klimaneutralität. In der gegenwärtigen, eher auf Meta-Ziele abzielenden Diskussion geht einiges drunter und drüber. Die heute vorgestellte Studie sehe ich daher eher kritisch. Es ist nicht zielführend, mit Eckpunkten, für deren Erreichbarkeit es nur wenige Anhaltspunkte gibt, den Diskurs zu prägen. Die attestierte grundsätzliche Machbarkeit ist eine nicht hinterlegte Behauptung.

Das Wuppertal Institut ist ein hervorragend aufgestelltes Institut, das sich der transformatorischen und technologischen Herausforderungen bewusst ist. Daher sind wir froh, dass wir das Institut als Gutachter auch für unsere dena-Leitstudie gewinnen konnten. […]“ ■