Die im Juni 2021 mit der Novelle des Bundes-Klimaschutzgesetzes vom Bundestag beschlossenen Klimaziele erfordern, dass Deutschland seine Klimaschutzanstrengungen verdreifacht. Agora Energiewende, Stiftung Klimaneutralität und Agora Verkehrswende haben hierfür 22 Handlungsempfehlungen mit schnell umsetzbaren Maßnahmen für die neue Legislaturperiode vorgelegt.
Die jüngsten Prognosen zeigen: Die Treibhausgasemissionen steigen 2021 wieder stark an und das Erreichen des 2020-Ziels (− 40 % gegenüber 1990) war nur ein Corona-Sondereffekt. Damit ist Deutschland weit davon entfernt, die im novellierten Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG-Novelle) vereinbarten Ziele von mindestens 65 % weniger Treibhausgasemissionen bis 2030 und Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen.
Um die Lücke zu schließen, müssen künftig jährlich 30 bis 40 Mio. t CO2-Äquivalent (CO2e) eingespart werden – der Trend der letzten Jahre war jedoch nur eine Minderung von etwa 14 Mio. tCO2/a. Die nächste Bundesregierung wird deshalb ihre Klimaschutzanstrengungen gegenüber dem Status Quo etwa verdreifachen müssen.
Vorschläge können in 100 Tagen vom Kabinett beschlossen werden
Das Sofortprogramm, das die drei Organisationen vorgelegt haben, enthält schnell umsetzbare Änderungen von Gesetzen und Verordnungen in allen Sektoren. Die 22 Eckpunkte sind neben übergreifenden Vorschlägen zum gesetzlichen Rahmen, zum Haushalt und zu weiteren Finanzfragen in die für den Klimaschutz relevanten fünf Schlüsselsektoren aufgegliedert: Strom, Verkehr, Industrie, Gebäude und Landwirtschaft. Die Vorschläge sind so konzipiert, dass sie in den ersten 100 Tagen vom Kabinett beschlossen werden und noch im Sommer 2022 in Kraft treten können.
Dr. Patrick Graichen, Direktor von Agora Energiewende, Rainer Baake, Direktor der Stiftung Klimaneutralität, und Christian Hochfeld, Direktor von Agora Verkehrswende, wollen die Eckpunkte als Input für die Parteien verstanden wissen, die nach der Bundestagswahl 2021 in Koalitionsverhandlungen eintreten werden:
„Die in diesem Sofortprogramm vorgelegten Instrumente setzen an den wichtigsten Stellschrauben zur Treibhausgasminderung an. Dazu gehören ein sinkender Strompreis bei steigender CO2-Bepreisung, umfassende Förderprogramme für Gebäudesanierung, Preisanreize für klimafreundlichen Verkehr, Landwirtschaft und Industrie, ein Abbau klimaschädlicher Subventionen und steuerliche Anreize. Eine Beschleunigung von Investitionen – besonders in den Ausbau erneuerbarer Energien – und ordnungsrechtliche Standards ergänzen den klimapolitischen Instrumentenmix.“
Investitionen in den Klimaschutz auf den Weg bringen
Als übergreifende Maßnahme plädieren die drei Organisationen dafür, einen Klima-Haushalt aufzustellen, der jährlich zusätzlich mehr als 30 Mrd. Euro für Klimaschutzinvestitionen bereitstellt.
„Das kommende Jahrzehnt bis 2030 muss eine Dekade des Investierens werden: in klimaneutrale Energieversorgung, Industrieanlagen, Verkehr, Gebäudesanierung und eine Wasserstoff-Infrastruktur. Dafür sind neben privaten auch umfassende öffentliche Mittel erforderlich, die über neue Investitionsfonds bereitgestellt werden können“, sagt Graichen. Zentral sei zudem, die klimafreundliche Alternative wirtschaftlich attraktiver als die fossile Variante zu machen.
„Die Wärmepumpe muss günstiger werden als die Öl-Heizung und das Elektroauto günstiger als der Verbrenner“, sagt Stiftungsdirektor Rainer Baake. Die schnellstmögliche Abschaffung der EEG-Umlage sei daher entscheidend, damit die Stromkosten nachhaltig sinken. Im Gegenzug soll der CO2-Preis steigen, ab 2023 bereits auf 60 Euro/tCO2 und dann mit einem Preiskorridor auf 80 bis 100 Euro/tCO2 im Jahr 2025 erhöht werden.
Mit einem gesetzlich festgelegten Ende der Nutzung fossilen Energieträger in allen Bereichen der Volkswirtschaft am 1. Januar 2045 bleiben 22 Jahre Zeit für Abschreibungen und Anpassungen. Um Fehlinvestitionen zu vermeiden, muss laut dem vorgeschlagenen Sofortprogramm daher das Ziel der Klimaneutralität 2045 in allen privaten und öffentlichen Finanzierungs- und Investitionsentscheidungen berücksichtigt werden. Hierfür sollen die Nachhaltigkeitsberichtspflichten für Unternehmen und Finanzmarktakteure entsprechend ausgeweitet werden.
Ab 2024 Einbauverbot für Öl- und Gas-Heizungen
Der Gebäudesektor wird 2021 erneut seine Ziele verfehlen – entsprechend hoch ist hier der Bedarf an wirksamen Klimaschutz-Maßnahmen. „Der kommende Investitionszyklus ist entscheidend für die Wärmewende, denn Investitionen in Dämmung und Heizungen sind langlebig“, warnt Graichen. „Um den Gebäudesektor schnell und sozialverträglich klimaneutral aufzustellen, ist es nötig, in den ersten 100 Tagen der neuen Legislaturperiode die gesamte Instrumentenpalette anzupassen – von einer Erhöhung und Neuausrichtung der Fördermittel über eine Anhebung der energetischen Standards bis hin zu einem sozial ausgewogenen Ausgleich der Kosten zwischen Mietern und Vermietern.“
Siehe auch: Österreich beschließt Aus für Gas-Heizungen ab 2025
Die drei Organisationen schlagen vor, ab 2024 keinen Einbau fossiler Heizungsanlagen mehr zu erlauben und für Neubauten und Dachsanierungen eine Solarpflicht einzuführen. Den klimaneutralen Neubau und die klimaneutrale Gebäudesanierung wollen die Experten mit jährlich 12 Mrd. Euro fördern.
++ 65-%-Klausel für erneuerbare Energien startet früher ++
Ergänzung vom 24.03.2022: Der Ampel-Koalitionsausschuss hat in seiner Sitzung am 23. März 2022 beschlossen, dass die im Koalitionsvertrag vereinbarte 65-%-Klausel für erneuerbare Energien ein Jahr früher greifen soll. „Wir werden jetzt gesetzlich festschreiben, dass ab dem 1. Januar 2024 möglichst jede neu eingebaute Heizung zu 65 % mit erneuerbaren Energien betrieben werden soll.“
Weitere Infos: Entlastungspaket soll die Wärmewende beschleunigen
Verdreifachung von Strom aus erneuerbaren Energien
Erneuerbarer Strom aus Windkraft- und Solaranlagen ist zentraler Baustein für ein Energiesystem ohne Kohle, Öl und Gas – von der Prozesswärme in der Industrie über die Nutzung von Wärmepumpen in Gebäuden bis hin zu Mobilität mit Elektroautos und im öffentlichen Nah- und Fernverkehr sowie für grünen Wasserstoff.
„Die Menge an Strom aus erneuerbaren Energien lässt sich nur verdreifachen, wenn Genehmigungsverfahren beschleunigt, die Akzeptanz für den Ausbau von Windkraft- und Solaranlagen verbessert und die nötige Infrastruktur für den Stromtransport gebaut wird“, sagt Rainer Baake. „Zudem muss der Ausstieg aus der Kohleverstromung bereits bis zum Jahr 2030 erfolgen.“
Neben dem EU-Emissionshandel solle ein nationaler CO2-Mindestpreis diese Entwicklung absichern. Er soll 2025 bei 50 Euro/tCO2 starten und bis 2030 auf mindestens 65 Euro/tCO2 steigen. „Man muss den Leuten jetzt reinen Wein einschenken: Der Kohleausstieg kommt acht Jahre früher als bisher geplant. Braunkohletagebaue und Strukturwandel brauchen Planungssicherheit, die Politik ist hier in der Pflicht“, mahnt Graichen.
Klimaneutrale Investitionen in der Industrie unterstützen
Um die erforderlichen Emissionsminderung in der Industrie bis 2030 zu erreichen, müssen vor 2030 etwa die Hälfte der Anlagen in der Stahl-, Chemie- und Zementindustrie durch klimaneutrale Technologien ersetzt werden. Klimaneutrale Technologien in der Grundstoffindustrie, in der etwa 70 % der industriellen Treibhausgasemissionen anfallen, sollen über Klimaschutzverträge (Carbon Contracts for Difference, CCfD), gefördert werden, mit denen die Differenzkosten zwischen der klimaneutralen Technologie und den am Markt erzielbaren Erlösen ausgeglichen werden.
„Wenn der Industriestandort Deutschland wettbewerbsfähig bleiben soll, muss die Politik die Unternehmen jetzt im globalen Wettlauf um Klimaneutralität unterstützen. Dazu gehört ein Gesetz, das klimaneutrale Investitionen in der Industrie sowie den Ausbau einer Infrastruktur für grünen Wasserstoff ermöglicht“, sagt Baake. Die drei Thinktanks plädieren für eine Wasserstoffstrategie 2.0, die den Fokus auf einen raschen Aufbau von Erzeugungskapazitäten sowie der Finanzierung und dem Aufbau eines Wasserstoff-Startnetzes legt.
Verdopplung bis Verdreifachung des Tempos ist angesagt
Graichen: „Deutschland braucht in den ersten 100 Tagen der neuen Regierung das größte Klimaschutz-Programm in der Geschichte der Bundesrepublik. Erneuerbaren-Ausbau, Kohleausstieg, Effizienz, Elektrifizierung von Gebäude und Verkehr – überall ist eine Verdopplung bis Verdreifachung des Tempos angesagt.“
Baake: „Klimaneutralität 2045 und − 65 % Treibhausgase bis 2030 sind als Ziele parteiübergreifender Konsens. Jetzt müssen schnell wirkende, ambitionierte Maßnahmen in allen Sektoren folgen. Ohne ein solches umfassendes Maßnahmenpaket kommen wir nicht auf den Zielpfad.“
Hochfeld: „Die neue Bundesregierung wird schnell zeigen müssen, dass sie die wesentlichen Lösungsansätze auf dem Weg zur Klimaneutralität im Verkehr im Blick hat und eine breite Mehrheit für die Transformation gewinnen kann. Genau darauf sind die von uns vorgeschlagenen Sofortmaßnahmen ausgerichtet.“ ■
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