Eine Studie zeigt: Eine ambitionierte Wärmewende und der massive Ausbau erneuerbarer Energien ermöglichen es Deutschland, bis 2027 den Gasbedarf um rund ein Fünftel zu senken. Bei einem akuten Versorgungsausfall russischer Gasimporte können die nötigen Einsparungen mit erheblichen Anstrengungen nahezu erreicht werden.
Eigentlich war es schon immer bekannt: Eine echte Wärmewende ist ein wichtiger Schlüssel für das Gelingen der Energiewende.
Allerdings gibt es höchst unterschiedliche Sichtweisen, die von einer starken Elektrifizierung bis zur Konzentration auf Erdgas als Übergang in ein Wasserstoffzeitalter reichen. Letztere dürfte mit einer neuer Priorisierung in der Energiepolitik durch den Russland-Ukraine-Krieg wohl vorerst vom Tisch sein, momentan geht es vielmehr darum, den Erdgasbedarf möglichst sofort zu senken.
Äquivalent von 8 Mio. Einfamilienhäusern
Was möglich ist, zeigen aktuelle Berechnungen von Agora Energiewende in Zusammenarbeit mit Prognos und dem Wuppertal Institut: Durch eine deutliche Steigerung der Energieeffizienz, den Ausbau erneuerbarer Energien sowie die Elektrifizierung von Industrieprozessen und Gebäudewärme, kann der Gasbedarf Deutschlands bis 2027 um rund ein Fünftel beziehungsweise etwa 200 TWh (Mrd. kWh) sinken. Das entspricht dem Erdgasbedarf von etwa 8 Mio. Einfamilienhäusern mit einem Erdgasbezug von 25 000 kWh/a.
Im akuten Fall, bei dem die russischen Gasimporte in die EU gänzlich ausfallen, müsste Deutschland trotz einer europäischen Ersatzstrategie rund 290 TWh Erdgas einsparen. Durch Energiesparmaßnahmen und alternative Energiequellen lässt sich der Verbrauch von Erdgas in der Bundesrepublik vorübergehend um rund 160 bis 260 TWh senken. Entsprechende Maßnahmen wären etwa Erdgas in der Strom-, Wärme- und Industrieproduktion durch alternative Brennstoffe zu ersetzen oder die Raumtemperatur um 0,5 bis 1,5 K abzusenken.
Anmerkung der Redaktion: Abgesenkte Raumtemperaturen werden in den letzten Wochen immer wieder dem Einsparpotenzial zugerechnet. Bisher fehlt es aber an Vorschlägen, wie eine Umsetzung mit hoher Akzeptanz jenseits von Appellen aussehen könnte. Der größte Wirkhebel dürften wohl hohe Gaspreise sein. Die häufig vorgenommene Pauschalierung einer Einsparung von 6 %/K geringere Raumtemperatur berücksichtigt zudem nicht, dass ein großer Teil der Anlagenverluste nicht in demselben Maß sinkt.
„Jede Wärmepumpe hilft“
Simon Müller, Direktor der Deutschlandarbeit von Agora Energiewende: „Die Bundesregierung muss nun zusammen mit der Bevölkerung und der Industrie alle Kräfte bündeln, um der fossilen Energiekrise vor allem strukturell zu begegnen.“
Dafür müssen neben kurzfristig wirksamen Maßnahmen zur Einsparung von Erdgas umgehend der Ausbau von erneuerbaren Energien und die Wärmewende beschleunigt werden, um Energiesouveränität für Deutschland zu erreichen.
„Jede neue Wärmepumpe, jede Solarzelle und jedes Windrad macht uns unabhängiger von fossilen Energieimporten und hilft zugleich, unser 2030-Klimaziel zu erreichen.“
Schnelle politische Entscheidungen erforderlich
Um Deutschland aus der strukturellen Abhängigkeit von fossilen Energieimporten herauszuführen, braucht es Agora Energiewende zufolge schnelle energiepolitische Entscheidungen.
Müller: „Erneuerbaren Energien und Energieeffizienz kommt mehr denn je eine strategische, sicherheitspolitische Bedeutung zu. Ein Zubau von 44,5 GW Windkraft-Anlagen, davon 39 GW Windkraft-Anlagen an Land sowie 84 GW Solaranlagen sind entscheidend, um im Stromsystem innerhalb von fünf Jahren 50 TWh/a Erdgas zu ersetzen.
In der Fernwärmeerzeugung kann eine Kombination von Wärmepumpen, Elektroden-Heizkesseln, Solar- und Geothermie, Nutzung von Abwärme und grünem Wasserstoff Erdgas im Umfang von 27 TWh/a einsparen. Diese Maßnahmen ermöglichen somit Erdgaseinsparungen in Höhe von 77 TWh im Jahr 2027 im Vergleich zu 2021.“
3 Mio. neue Wärmepumpen bis 2027
Der Großteil des Erdgases wird in Gebäuden verbraucht. Um hier die Abhängigkeit schnell zu reduzieren, sehen die Berechnungen in der Studie nur eine geringfügige Steigerung der Sanierungsrate von 1,2 % im Jahr 2021 auf 1,6 % im Jahr 2027 sowie gut 3 Mio. neu installierte Wärmepumpen vor.
Müller: „Bei der Sanierungsoffensive müssen wir insbesondere die ineffizienten Ein- und Zweifamilienhäuser anpacken, um schnell substanzielle Einspareffekte zu erzielen.
Der Einbau neuer Öl- und Gas-Heizungen muss unverzüglich beendet werden. Klare rechtliche Vorgaben müssen mit einer sozial gerechten Förderung kombiniert werden.“ Hierdurch lassen sich im Gebäudebereich innerhalb von fünf Jahren 55 TWh/a Erdgas einsparen.
„Industrie gegen fossile Energiepreiskrisen wappnen“
Die hohen Gaspreise rücken Effizienzmaßnahmen und Elektrifizierung für die Industrie in den Fokus: Der Umstieg auf Wärmepumpen oder Elektroden-Heizkessel für die Niedertemperatur-Prozesswärme wird hierdurch wirtschaftlicher.
Müller: „Mit verbesserter Energie- und Materialeffizienz kann sich die Industrie gegen fossile Energiepreiskrisen wappnen. Auch der schnellere Hochlauf von grünem Wasserstoff ist zentral, um die Abhängigkeit der Industrie von Erdgas nachhaltig zu senken.“ Insgesamt liegen die Erdgas-Einsparpotenziale bis 2027 in der Industrie bei 69 TWh/a.
Kurzfristige Einsparpotenziale für den Krisenfall
Für den Fall von akut ausbleibenden Gaslieferungen aus Russland hat Agora Energiewende die kurzfristigen Einsparpotenziale für zwei Szenarien berechnet:
Eine erste Stufe berücksichtigt Einsparoptionen, die moderate bis starke Einschränkungen und Produktionsrückgänge erfordern. Hiermit können gut die Hälfte (158 TWh) des auf Deutschland bezogenen, jährlichen Einsparbedarfs bei einem Ausfall russischer Importe erzielt werden: Dazu gehören die Absenkung der Raumtemperatur in allen Gebäuden um 0,5 bis 1 K in Kombination mit kleineren Effizienzmaßnahmen, wie dem Abdichten von Fenstern.
Zu den Sofortmaßnahmen gehört auch der Ersatz von Gas-Kraftwerken zur Strom- und Wärmeerzeugung etwa durch zusätzliche erneuerbare Energien oder einen Rückgriff auf Kohle beziehungsweise Öl. Bei Industrieanlagen wäre der Umstieg auf andere Brennstoffe in der Prozesswärme im Umfang von 15 % erforderlich. Zudem würde die stoffliche Verwendung von Erdgas in der Chemieindustrie halbiert. Außerdem wären schnell umsetzbare Effizienzeinsparungen, etwa Abwärmenutzung nötig.
Müller: „Zur Krisenbewältigung braucht es sowohl eine Industrie, die ihre Handlungsoptionen voll ausschöpft, als auch – ähnlich wie in der Coronavirus-Pandemie – einen staatlichen Schutzschirm für die Unternehmen. Dazu gehörten Kurzarbeit und die Deckung von Betriebskosten im Fall von Produktionsausfällen.“
Die zweite Stufe erfordert noch größere Anstrengungen: Hierzu zählen eine Absenkung der Raumtemperatur um 1 bis 1,5 K und der Umstieg auf andere Brennstoffe in der Prozesswärme im Umfang von 33 %. Hiermit könnte Deutschland rund 90 % des nötigen Einsparvolumens beziehungsweise 261 TWh erreichen. Die stoffliche Verwendung von Erdgas in der Chemieindustrie würde zudem nur noch ein Viertel gegenüber dem Niveau von 2021 betragen. Die Produktion würde damit zum Teil aufrechterhalten werden, um Unterbrechungen von Lieferketten durch Kaskadeneffekte entgegenzuwirken.
Download der Studie: Energiesicherheit und Klimaschutz vereinen – Maßnahmen für den Weg aus der fossilen Energiekrise
Erdgasverbrauch in Deutschland
Insgesamt hat Deutschland im Jahr 2021 rund 912 TWh Erdgas verbraucht, von denen rund 90 % aus Importen stammten. Russland deckte knapp die Hälfte dieser Importe ab.
Zum Vergleich: Die Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 haben laut Gazprom jeweils eine nominelle Transportkapazität vom 550 TWh/a.
Der teilweise Erdgas-Ausstieg dürfte einen Effekt haben, den die Gaswirtschaft fürchten muss: Je weniger Erdgas verbraucht wird, desto teurer wird Erdgas für die Kunden. Allein die Einsparung von 55 TWh/a Erdgas in Wohngebäuden würden die Einnahmen aus dem Netzentgelt auf Preisbasis 2021 um rund 875 Mio. Euro verringern, zusammen mit den Einsparungen in der Industrie und Gewerbebereich wären es über 1 Mrd. Euro. Deutlich steigende Netzentgelte wären unvermeidbar, denn die Kosten für die Netze sinken nicht analog. Steigende Preise könnten dann den kundenseitigen Erdgas-Ausstieg beschleunigen. ■
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